Quo Vadis Mobilität? Der freemove - Jahresrückblick 2022. Teil 1: Was uns gesellschaftlich bewegt
Markus SperlQuo Vadis Mobilität? Der freemove - Jahresrückblick 2022. Teil 1: Was uns gesellschaftlich bewegt
Ein ereignisreiches Jahr geht zu Ende – für freemove und die Mobilität in Berlin und ganz Deutschland. Das zweite Projektjahr unseres BMBF-geförderten, transdisziplinären Forschungsprojekts freemove zu Mobilitätsdaten und Privatsphäre war bewegt – durch eigene, spannende Projekte und Veranstaltungen, aber auch durch die vielfältigen, gesellschaftlichen Entwicklungen im Mobilitätsbereich. Ein guter Moment, um das Geschehene Revue passieren zu lassen. Projektverantwortlicher Markus Sperl schreibt in seinem Beitrag über aktuelle Debatten, das Projekt und Anwendungskontexte.
Alles neu macht 2022: Für 9, 29 oder 49 Euro durch ganz Deutschland
2022 wird im verkehrspolitischen Kontext wohl lange im Gedächtnis bleiben. Die Pandemie und neue Arbeitsstrukturen, Angst vor Infektionen, Lockdowns und gesetzliche Einschränkungen prägten 2020 und 2021 das Mobilitätsverhalten. 2022 hingegen war das Jahr der Entlastungspakete für Bürger:innen, um durch Krisen und Konflikte ausgelöste Kostensteigerungen aufzufangen. Eine der bekanntesten Maßnahmen war zweifelsfrei das 9-Euro-Ticket: Für drei Monate konnten Menschen ein Ticket zu einem festen Preis für Regional- und Nahverkehr im gesamten Land nutzen. Das dreimonatige Realexperiment machte deutlich, dass ein vergünstiges Angebot für den öffentlichen Nahverkehr durchaus Verhaltensänderungen hervorrufen kann: So sei immerhin jede:r Fünfte Neukund:in des öffentlichen Nahverkehrs gewesen, zudem habe das 9-Euro-Ticket durch den Umstieg auf klimafreundliche Mobilität in drei Monaten rund 1,8 Millionen Tonnen CO₂ eingespart - schätzt der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV). Gleichzeitig wurde klar, dass die bestehende Verkehrsinfrastruktur für den massiven Andrang auf ÖPNV und Schiene nur bedingt gerüstet ist.
Die Debatten um ein Anschlussangebot waren lang. Aus neun Euro sind in der Zwischenzeit 29, bzw. 49 Euro geworden, und neben vereinzelter regionaler Insellösungen (Jelbi, Mobility Inside, Free Now) mit unterschiedlichen Modi-Konstellationen (z.B. öffentliches Bikesharing, Scooter, Ruftaxis, ÖPNV), sind viele Herausforderungen, beispielsweise die Vereinfachung der Tarifgestaltung oder digitaler Lösungen im Ticket- und Routing-Bereich, weiterhin präsent.
Nachhaltige Mobilität in der Stadt bleibt in der Umsetzung mühsam
Nicht nur die immer sichtbareren Folgen der Klimakrise, auch die aktuelle Energieknappheit und die Präsenz der Protestbewegungen wie der “Letzten Generation” lassen Klimathemen wieder ganz nach oben auf die Agenda rutschen. Der Verkehrssektor ist, trotz großer Effizienzsteigerungen der Motoren und alternativen Antriebstechnologien, unter den Bereichen, deren CO₂-Emissionsanteil EU-weit in den letzten Jahrzehnten sogar anstieg. Prägen wird in den kommenden Jahren vor allem die EU-Entscheidung über das “Verbrenner-Aus”: Ab 2035 dürfen in der EU keine Verbrenner-PKW mehr neu zugelassen werden. Deren Anteil an den Verkehrssektor-Emissionen wird auf mehr als 60 Prozent geschätzt.
In Berlin gibt es in der Verkehrsgestaltung spannende Entwicklungen, die Standards setzen und als Zukunftsmodelle fungieren könnten. In mehreren Berliner Nachbarschaften von Lichtenberg bis Mitte erfreuen sich Kiezblocks – dahinter verbergen sich aktive Verkehrsberuhigungen durch Sperrungen von Kreuzungen – teils großer Beliebtheit. Ähnlich verhält es sich mit der Dynamik in den Bereichen des ruhenden Verkehrs und des Parkraummanagements: Die Rückgewinnung von Parkräumen für Anwohner:innen ist eine der Stellschrauben nachhaltiger Verkehrswende und wirft Fragen auf, die über Mobilität hinausgehen: Wie soll öffentlicher Raum in dichten, urbanen Räumen verteilt werden? Neben existierenden Parklets und der Bewirtschaftung von Parkplätzen durch die Gastronomie, könnte das Modellprojekt des autofreien Gräfekiezes 2023 hier spannende Impulse setzen.
Weitere Entwicklungen in Berlin sind darüber hinaus: Der Berlkönig geht in die Neuauflage als Muva – zunächst im Berliner Osten und für barrierefreie Mobilität an ausgewählten U-Bahn-Linien. Jelbi erweitert sein Angebot und eröffnet neue Stationen. Die konsequente Umsetzung des Radverkehrsplans und Radwegebaustellen sowie -planungen schreiten voran – es bleibt spannend! Auch im Bereich E-Mobilität, insbesondere beim Ausbau der Ladesäuleninfrastruktur sollen in naher Zukunft die Anstrengungen weiter hochgehalten und Lücken geschlossen werden – auch mittels neuem bundesweiten Masterplan.
Als Fazit lässt sich festhalten: Die Erwartungen an aktuelle Mobilitätsangebote kollidieren nicht selten mit der Realität: egal ob auf dem Fahrrad, dem E-Scooter, im Leihauto oder dem Bus. Hoffnungen auf Modernisierungen liegen auch in der Nutzung von Daten zur Optimierung von Services. Auch hier sind einige Neuigkeiten zu verzeichnen.
Mobilitätsdaten als Innovationstreiber
Die Lage bei der Regulierung und staatlichen Initiativen zur Förderung der Teilung und Bereitstellung von Mobilitätsdaten unterschiedlicher Art ist dynamisch und teils unübersichtlich. Zwei neue Mobilitätsdatenplattformen haben im Laufe des Jahres ihren Betrieb aufgenommen. Zum einen die Mobilithek vom Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV), welche schrittweise den Mobilitäts Daten Marktplatz von der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) sowie die BMDV-mCloud als Open-Data-Plattform ablösen soll. Parallel hierzu ging mit dem Mobility Data Space eine Online-Metadaten-Plattform in den Betrieb, wo Unternehmen der Mobilitätsbranche durch Datenüberlassungsverträgen gesammelte Daten in einem geschützten Kontext austauschen sollen. Unter den Nutzenden finden sich auch große Automobilhersteller und Versicherungsgesellschaften.
Durch die Anpassung des Berliner Straßennutzungsgesetzes kann nun auch Berlin Mobilitätsanbieter:innen verpflichten, ihre Flotten- und Nutzungsdaten mit der städtischen Verwaltung zu teilen. Auf Bundesebene wiederum wurde der Beteiligungsprozess zur Gestaltung des im Koalitionsvertrag erwähnten Mobilitätsdatengesetzes “zur freien Zugänglichkeit von Verkehrsdaten” angestoßen. In welchem Verhältnis dieses zum ebenfalls novellierten Personenbeförderungsgesetz und dessen Mobilitätsdatenverordnung, sowie zu anstehenden legislativen Vorhaben auf europäischer Ebene (Data Act, Teile des Digital Services Act oder Digital Markets Act) steht, wird bis 2024 noch zu klären sein. Die Mobilitätsdatenverordnung enthält bereits Verpflichtungen zum Teilen von Echtzeit-Auslastungsdaten für ÖPNV, Taxis, Mietwagen und Ridepooling.
Neuen Aufwind bekommt auch die Debatte zur Fragilität von Versorgungssystemen. Sie ist uns durch die gezielte Lahmlegung kritischer Infrastrukturen – zum Beispiel durch gekappte Kabel und die Störung des norddeutschen Bahnnetzes in diesem Jahr – präsenter denn je. Die Diskussion um den Schutz eben dieser Infrastrukturen könnte sich 2023 neben der Klimafreundlichkeit zu einem zentralen Themenstrang entwickeln.
In aller Kürze durch das politische Mobilitätsjahr, demnächst geht es weiter mit Teil 2, in dem wir erzählen, was wir eigentlich so währenddessen getan haben.